Direkt oder indirekt wird mir im Kontext von Astrologie oft die Frage gestellt:
Haben wir denn überhaupt noch einen freien Willen, wenn die astrologischen Einflüsse der Planeten sowieso "alles in unserem Leben vorherbestimmen"?
Swami Vivekananda, dessen Ansicht der Vedanta-Philosophie ich mich hier anschließen möchte, sagte einst Folgendes zum Thema der Willensfreiheit: "Aus Freiheit kommen wir, in der Knechtschaft wird sie zum Willen, und aus der Knechtschaft gehen wir wieder in die Freiheit."
Was uns Swami Vivekananda hier sagen möchte, ist, dass die Begriffskombination "freier Wille" eine Verklüngelung verschiedener Ebenen ist, die wie so nicht zusammen denken können. Es gibt Freiheit und es gibt Willen. Der Wille ist eine Kette mentaler Ereignisse und findet auf der Ebene von Ursache und Wirkung, von Kausalität, statt. Solange wie der Wille von den Umständen der Kausalität bedingt ist, ist jedoch der sog. "freier Wille" nicht frei, sondern gebunden. Dies nennt Swami Vivekananda Knechtschaft.
Erlangen wir hingegen Erleuchtung, Freiheit, dann sind wir im Zustand des ewig freien Atman, welches gewissermaßen unsere Seele in Gott ist. Doch stellt sich in diesem Zustand die Frage nach Willen überhaupt nicht. Wie sollte in der Essenz der ultimativen Realität, in Brahman, in Satchidananda bzw. synonym auch in Gott die Frage nach Willen überhaupt entstehen? Wie sollte das Absolute auch nur irgendetwas wollen?
Wollen ist eine Funktion des Verstandes. In unserem eigenen Tiefschlaf, wenn der Verstand aufgelöst ist, wo ist da der Wille? Wo ist der Wille, wenn du dich im Tiefschlaf befindest? Du kannst die Existenz deines freien Willen im Wachzustand fühlen, vielleicht auch manchmal im Traumzustand. Doch nicht, wenn du dich im Tiefschlaf befindest und der Verstand ausgeschaltet ist. Jenseits des Verstandes existiert die Frage nach (freiem) Willen nicht.
Der Wille ist Teil des Verstandes. Indem der Wille Teil des Verstandes ist, unterliegt er den Gesetzmäßigkeiten von Ursache und Wirkung. Bedingt durch diese Kausalität ist er gebunden und nicht frei. Dies ist die Position von Swami Vivekananada.
Aber wir fühlen doch diesen freien Willen in uns, möchten wir ihm zurufen.
Wenn wir nach Willensfreiheit fragen, ist es nützlich, wenn wir drei Ebenen unterscheiden. Schauen wir uns unser eigenes Leben an, so lautet die erste Antwort: ja, wir haben freien Willen. Betrachten wir die Frage hingegen aus der Perspektive der Philosophie, Religion und Neurowissenschaften, so muss die zweite Antwort lauten: nein, wir haben keinen freien Willen. Schauen wir auf die Frage der Willensfreiheit schließlich aus der vedantischen Sicht eines erleuchteten Menschen, eines jivan mukta, so lautet die dritte Antwort: Freiheit ja, aber kein freier Wille.
Also auf alltäglicher Ebene: ja, wir haben freien Willen (Ebene 1), bei näherer Untersuchung: nein, wir haben keinen freien Willen (Ebene 2) und auf der Ebene von Brahman/Gott: Freiheit ja, jedoch keinen freien Willen (Ebene 3).
Wie können wir diese verschiedene Ebenen für uns persönlich integrieren?
Denn es ist doch so: wir haben ganz praktisch gesehen im Wachzustand und selbst im Traumzustand dieses Gefühl des freien Willen, daran empfinden wir keinen Zweifel, ganz unabhängig von dieser Diskussion; auch ist unsere ganze Gesellschaft auf der Idee aufgebaut, dass wir einen freien Willen haben, und wir fühlen, dass wir freien Willen haben.
Und doch wissen wir nach all dem, dass es letztendlich keinen freien Willen gibt, sondern nur die Freiheit Gottes (jenseits des Verstandes).
Kombinieren wir doch beides miteinander. Lasst uns den Anschein des freien Willens und die Tatsache, dass wir uns frei fühlen, nutzen, sodass wir alle unsere Handlungen umwandeln in Gebet und Hingabe an Gott/ dem Absoluten/ dem höchsten Selbst. Wir erledigen unsere täglichen Handlungen, welcher Art sie auch sein mögen... und übergeben diese sowie die Früchte dieser Handlungen mental an Gott/dem Absoluten/ dem höchsten Selbst.
Wir bewegen uns somit vom Anschein des freien Willens (Stufe 1), zum Verständnis, dass es keinen freien Willen gibt (Stufe 2) hin zur Freiheit jenseits des Willens (Stufe 3): ,,Oh Herr, du hast dieses Gefühl des freien Willen in mich gepflanzt, ich übe es aus, und doch weiß ich, dass letztlich alles durch Deinen Willen geschieht."
Die Wahrheit ist: schlussendlich sind wir frei, auch wenn wir keinen freien Willen haben.
Die weiseste Art den Anschein des freien Willens zu nutzen, lässt sich demnach darin sehen, ihn aus freien Stücken Gott/dem Absoluten/dem höchsten Selbst anheimzugeben und aus freien Stücken anzuerkennen, dass es eigentlich Gottes Wille ist.
Sehen Sie, hier kommt beides zum Tragen: Ich nutze den Anschein eines freien Willens und zur gleichen Zeit erkenne ich an, dass es Gottes Wille ist. Dies ist eine wunderschöne Auflösung dieses Paradoxes, welche wir auch Hingabe nennen.
Wir können sagen: diese Auflösung ist gerade nicht deterministisch, sondern unbestimmt/ indeterministisch.
Übertragen auf die Astrologie, erkennen wir, dass wir alle Freiheit haben, wie wir uns zu den Umständen in unserem Leben verhalten. Wir können zwar nicht erwarten, dass das Leben sich tatsächlich so verhält, wie wir es uns wünschen. Doch wir können uns zu den Umständen in unserem Leben stets derart verhalten, dass wir den Anschein unseres freien Willens nutzen um ihn mit Gottes Willen in Einklang zu bringen.
Dann begeben wir uns nämlich in diesen unbestimmten Raum der Hingabe und können Gottes Willen in unser Leben holen. Und was dann geschieht, entzieht sich den Einflüssen der Astrologie und ist unbestimmt/ indeterministisch.
Oder um es mit den Worten von Ernst Wilhelm auszudrücken:
,,Freier Wille existiert, aber er hat nichts mit dem Ego zu tun. Er hat nichts mit den Wünschen des Individuums zu tun. Er hat auch nichts mit den Bedürfnissen des Individuums zu tun. Der freie Wille ist Gottes Wille, der durch den Menschen fließt. Dies wird nicht im Horoskop angezeigt; dies steht nicht in Ihrem Horoskop. Und viele Leute hören dies nicht gerne: wir haben 100% freien Willen, wie wir uns ... zu den Dingen in unserem Leben verhalten. Doch die meisten Menschen nutzen diesen nicht. Wenn sie diesen nicht nutzen, dann wird Gottes Wille ganz sicher nicht durch diese Person fließen. Der einzige freie Wille, mit dem wir uns also beschäftigen müssen, ist der freie Wille, wie wir uns zu dem, was um uns herum ist, verhalten. Werden wir dies auf gesündere oder ungesündere Weise tun? Wenn wir dies auf gesündere Weise tun (Anm: Christian: d.h. den Anschein unseres freien Willens mit Gottes Willen in Einklang bringen), dann kann Gottes Wille anfangen, durch uns zu fließen. UND DANN IST ALLES MÖGLICH."