Präzession der Erdachse

(Fortsetzung des Posts "Wanderung des Zenits der Sonne")  

Jedoch sehe ich zur tiefsten Nacht des 21. Junis am nördlichen Wendekreis in der Sahara direkt 90° über mir im Zenit wider Erwarten nicht die Sternbildgrenze zwischen Steinbock und Schütze, sondern gerade mal das Hinterteil vom aufgehenden Schützen (der Schütze steigt rückwärts auf und durch den Himmel).

Dabei müsste ich doch, da die Sternzeichengrenze zwischen Steinbock und Schütze direkt 180° gegenüber der Sternzeichengrenze von Zwilling und Krebs liegt, wo ich vor zwölf Stunden (an diesem 21. Juni) die Sonne direkt über mir im Zenit gesehen habe (wenn ich doch bloß auch tagsüber schon die Sterne hinter der Sonne hätte erkennen können …), nun eigentlich genau zwischen Schütze und Steinbock blicken.

Immerhin stehen an vielen Orten des nördlichen Wendekreises Schilder mit Aufschriften wie „Wendekreis des Krebses“ bzw. „Tropic of Cancer“ (Oman) oder „Tropico de Cancer“ (Mexico); mitunter wurden zur Markierung des „Krebs-Wendekreises“ auch Denkmäler errichtet, so zB im Landkreis Hualien auf Taiwan. Ebenso betitelt der Schriftsteller Henry Miller seinen 1934 veröffentlichten (surrealistischen und burlesk überzeichneten) Roman mit „Wendekreis des Krebses“; den Nachfolgeroman von 1939 überschrieb er konsequenterweise mit „Wendekreis des Steinbocks“. In der Tat existieren solche „Wendekreis des Steinbocks“-Wegmarkierungen und -schilder auch am südlichen Wendekreis: in Atsimo-Andrefana im Südwesten Madagaskars heißt es auf einer Steintafel, auf der ein rötlicher Steinbock aufgemalt ist, bspw. „vous franchissez le tropic de capricorne“ (sie überqueren den Wendekreis des Steinbock); bei Itai am südlichen Wendekreis in Brasilien erfolgt ebenso auf einem Schild ein Hinweis „aqui passa o trópico de capricórnio“ sowie auch am Wendekreis des Steinbocks am Stuart Highway in Australien, wo ein entsprechendes globusförmiges Denkmal errichtet steht. Nicht zuletzt haben Volksmund und Literatur seit Jahrhunderten nur vom Wendekreis des Krebses und Wendekreis des Steinbocks gesprochen, wenn sie den Breitengrad der Sommer- bzw. Wintersonnenwende lokalisieren und benennen möchten.

Bei all diesen Weltbezügen überrascht es mich (in dieser tiefsten Nacht des 21. Juni) schon, nun gerade einmal das Hinterteil vom Schützen im Zenit des sternigen Saharahimmels vor mir zu sehen. Ist der Fixsternhimmel über mir vielleicht gar nicht so fix? Welchen Irrtum bin ich hier anheimgefallen bzw. wie erklärt sich diese mir unmittelbar sichtbare Abweichung?

So muss es gewesen sein: zum Zeitpunkt der Namensgebung der Wendekreise war der Zenit der Sonne am Tag der Sommer- bzw. Wintersonnenwende ziemlich genau vor dem Sternenhintergrund der Sternbildgrenze Zwilling-Krebs bzw. Schütze-Steinbock, was sich astronomisch auf das Jahr 10 v.Chr. datieren lässt. Für die späten Griechen und die Römer, aber auch in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten müssen die Sonnenwenden daher relativ exakt bzw. nahe der Sternbildgrenze Zwilling-Krebs bzw. Schütze-Steinbock erschienen worden sein – daher auch die Namensgebung.

Seitdem (bzw. auch schon davor, also durchgängig) ist der Fixsternhimmel zum Zeitpunkt der Sommer- und Wintersonnenwende (und auch zu den frühjährlichen/ herbstlichen Tagnachtgleichen und generell) ganz langsam alle 72 Jahre zirka 1° rückläufig durch die Sternbilder gewandert. D.h. dass sich die Sommersonnenwende bspw. von etwa 1450 v. Chr. bis 10 v. Chr. vor dem Sternenhintergrund des Sternbildes Krebs abspielte (und die Wintersonnenwende dem entsprechend vor dem Sternenhintergrund des Sternbildes Steinbock). Ab 10 v. Chr. bis 1989 n.Chr. wendete die Sonne im Sommer vor dem Sternenhintergrund des Sternbildes Zwilling ihre Richtung. Seit 1990 bis 4610 n. Chr. ist die Sonne zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende nun vor dem Sternbild Stier zu lokalisieren.

Entsprechend haben sich auch die anderen Sternbilder der Ekliptik – denn diese sind ja wie ein Band kreisförmig miteinander verbunden – über die Jahrtausende im Verlauf eines Sonnenjahres alle 72 Jahre zirka 1° rückläufig bewegt, d.h. zum selben Zeitpunkt eines jeden Sonnenjahres bzw. wenn die Erde alljährlich dieselbe Position auf ihrer elliptischen Umlaufbahn um die Sonne erreicht hat, dann hat sich (scheinbar) auch das Band der Sternbilder minimal rückläufig bewegt: es befindet sich nicht mehr an genau derselben Stelle wie noch ein Jahr zuvor. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende kommt es so zu dieser Verschiebung, die ich nun wundersamerweise im Jahre 2019 in Murzuk an der lybisch-Tschad-nigerianischen „Grenze“ in der nächtlichen Sahara (15° östliche Länge, 23,4° nördliche Breite) wahrnehmen kann. Doch hat sich wirklich das Band der Sternbilder im Laufe der Zeit rückläufig verschoben oder ist dies – wie so vieles in der Wüste – nur eine Erscheinung, hinter der eine andere Erklärung steckt? 

(Fortsetzung in den Posts "Zyklen der Präzession/ Yugas"
bzw. "Die Geschichte von Larry Reavis")

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